43 Der Kampf gegen das Gefangensein

Du meine Güte!
Da ist es – da steht, was es ist und wie es ist – bei mir und bei diversen anderen ehemaligen und aktuellen Essgestörten!

Ganz zufällig erspähte ich diese Website (https://www.energy4soul.at/fitness-nach-magersucht/) und las mich sofort fest an ihr, in ihr, wie auch immer.
Gut geschrieben, viel erzählt und es ist auf den Punkt gebracht. Und dieser Punkt holt mich nun gerade soeben ein, denn ganz entscheidende und berechtigte Anmerkungen macht Julia, die Autorin von „energy4soul“:
Sie schreibt von einem „totale[n] Fokus auf die Optik“ und einem sich „selbst belügen“. Es scheinen typische Vorgehensweisen oder „Werdegänge“ von Personen mit Essproblemen zu sein, wenn sie eines Tages die eine Sucht auf eine nächste verlagern – drastisch formuliert: vom Essproblem zum Sportproblem.

Ich dachte nicht so weit, dass es ein typisches Verfahren sein soll, den (Ex-)Essgestörte bewusst oder unbewusst gehen. Doch ich finde mich in diesen Zeilen wieder:
Magersucht – Clean Eating – Krafttraining / Muskelaufbau – Fixation auf gesundes Zunehmen…
Alles Schlagworte, die mein tagtägliches Leben ausfüllen und mich irgendwo auch erfüllen.

Julia fragt zudem, ob es ein Übergang vom „Ideal schlank“ auf „Ideal supertrainiert“ sein muss.
Genau das sagte mir mein Freund am Wochenende auch. Wir sprachen über mein mir erneut fest vorgenommenes Vorhaben, ab sofort wirklich und bewusst über 3.000 kcal zu mir zu nehmen, an Trainingstagen im Idealfall sogar 3.500 kcal.

Gesund zunehmen, Muskeln aufbauen. Das ist seit Jahren mein Ziel, doch so wie ich es mache, klappt es nicht! Es geht so nicht! Dessen bin ich mir bewusst…
Es ist nichts anderes, als sich selber etwas vormachen.
Was zu tun ist, um etwas zu ändern, liegt auf der Hand.
Ich kann natürlich nur von mir sprechen, aber ich frage mich, ob es denn „schlimmer“ kommen kann, als in einem ewigen Kreis aus Gedanken, Kontrolle, geplantem Alltag, Routinen, Essen und Sportkonsum gefangen zu sein?
Worauf warte ich? Angst spielt mit Sicherheit eine große Rolle, doch wovor?
Angst vor Veränderungen? Oder ist es Angst davor, wie mit diesen Änderungen umzugehen ist?
Ohne Veränderungen einzuleiten und diese zu erleben, können keine (voreiligen) Schlüsse gezogen werden. Unbekanntes im Vorfeld abzulehnen, entspräche quasi einem Vorurteil, oder?
„Einfach“ ausprobieren, wie es anders, vielleicht besser sein könnte…
Wenn „einfach“ einfach einfach wäre…


Und während mein Freund und ich uns unterhielten, sagte er, dass er mit mir meinetwegen zusammen sei, und nicht aufgrund meines Bauches („Sixpack“). Das regte etwas in mir…
Ich antwortete, dass ich weiß, dass er zum Glück nicht oberflächlich ist.
Seine Antwort: „Aber du, zumindest bei dir“.
Ich wurde sofort still, mein Kopf ratterte: Oberflächlich…?
Puh, das, das ist gerade… ein komisches Gefühl.
Doch ich konnte und kann es nicht leugnen. Geht es ums Zunehmen achte ich sehr genau auf meinen Körper.
Kleidungstrends, Schminke, Haare etc. … solche Dinge sind mir relativ egal.
Doch schaue ich nicht umsonst diverse Male am Tag in den Spiegel und begutachte meinen Bauch, mache Fotos und messe täglich Taille und Hüfte. Alle zwei Wochen stelle ich mich auf die Waage, nehme Maßen vom ganzen Körper.


Wie kann ich diesen Prozess anhalten oder gar abschalten?
Denn eins weiß ich: Ich will nicht mein Leben lang genauso weitermachen.
Gleichzeitig halte ich nichts von Vorsätzen zum neuen Jahr. Ich denke mir, wenn ich wirklich etwas ändern will, dann sofort und nicht noch z.B. drei Monate warten.
Doch bei diesem Thema versuche ich es schon lange, habe für mich kleine Fortschritte und Veränderungen erzielt, aber meine Mitmenschen sehen es als „zu wenig“ oder nichtig an.


Wenn du im Inneren nicht zufrieden bist, wird dir ein trainierter Körper alleine auch nicht zu einem glücklichen Leben verhelfen“, ist ebenfalls ein Zitat der „energy4soul“-Julia.
Auch darüber bin ich mir im Klaren. Und dennoch bleibt der Drang, Sport zu machen, Essen abzuwiegen, der Spiegelkontrollblick mehrmals am Tag. Ich versteife mich dabei so auf meinen Bauch – und den Rest meines Körpers blende ich aus. Hauptsache der gestern „dicke“ Bauch ist heute flach.


Eine Bekannte sah mich die Tage seit einigen Wochen wieder und sagte, ich sähe nicht gut aus. Dazu muss ich erwähnen, sie weiß von meiner Geschichte.
Ich war überrascht, denn ich hatte ein paar Hundert Gramm zugenommen und berichtete ihr davon. Ihre Antwort war nicht böse gemeint und auch nicht negativ betont, doch ihr Wortlaut war:
„Wo hast du zugenommen? Am kleinen Finger vielleicht“.

Hierbei muss ich leider erneut feststellen, dass ich mich wohl wirklich anders sehe als andere und es kein selbst (ehemaliger) Betroffener verstehen kann, welche Bedeutung schon die kleinste Veränderung für Personen mit Schwierigkeiten beim Essen und Zunehmen hin zu einem gesunden Sportpensum hat. Es ist unnormal, eigenartig, fremd für sie.
Nur für Betroffene ist bzw. waren dieser Zwang und die Kontrolle das einzige Normale und auch irgendwie das Richtige für sie…


Es ist vergleichbar mit einer Schraube auf diesem langen Weg zur Veränderung: Solange sie locker sitzt, kann sie nicht(s) halten.
Vor gut zwei Jahren lockerte ich die Schraube versehentlich:
Ich entfernte mich mehr vom Ziel, nahm ab, mein Vorhaben kam ins Wanken.
Inzwischen reflektiere ich bewusst darüber, wohin ich möchte, was ich erreichen und wofür ich das machen will: Nämlich für mich.


„Hast du ein Ziel, kämpfe dafür!“, sage ich mir.
„Du kennst es, du weißt, wohin du möchtest, also fang endlich richtig an zu kämpfen!“

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